Erfahrungsbericht: Führungskräfte-Feedbacks im deutsch-tunesischen Kontext

19. Mai 2024  

Lena Dihstelhoff

Als Psychologin und interkulturelle Trainerin begleitete ich in den letzten Monaten zahlreiche Feedbackprozesse für Führungskräfte in einer großen deutschen Organisation, die auch in Tunesien aktiv ist. Dabei fielen mir interessante interkulturelle Besonderheiten auf.

Ablauf des Feedbackprozesses

Der Feedbackprozess ist standardisiert und wird von der deutschen Zentrale gesteuert. Jede Führungskraft (FK) erhält einmal im Jahr Feedback von den Mitarbeitenden. Nach einem Vorgespräch zwischen Moderator:in und FK versendet der Moderator/die Moderatorin im Anschluss standardisierte Fragebögen (in der jeweiligen Arbeitssprache, im Fall von Tunesien  auf Französisch) an die Mitarbeitenden. Daraus wird ein Gesamtergebnis erstellt, was dann im Rahmen eines knapp eintägigen Workshops zunächst gemeinsam mit dem Team (ohne FK) besprochen wird. Anhand einiger Leitfragen entwickelt das Team mit Unterstützung des Moderator/der Moderatorin das finale Feedback, das anschließend der FK präsentiert wird. Abschließend wird ein kurzes Protokoll verfasst.

Hintergrund: Unterschiede in der deutsch-tunesischen Feedbackkultur

Tunesien ist ein relativ kleines Land mit 12,3 Millionen Einwohnern, von denen knapp 20%  im Großraum Tunis leben. Zwischenmenschliche Beziehungen spielen eine große Rolle, so werden Verwandtschaftsverhältnisse über mehrere Ecken nachvollzogen, und Nähe und Zugehörigkeit zu einer Gruppe definiert sich auch z.B. aus nachbarschaftlichen Kontexten heraus. Gute Beziehungen zu haben ist enorm wichtig, um im Dschungel von schleppender öffentlicher Verwaltung und z.B. im Alltagsleben nicht offen zugänglichen Informationen zurechtzukommen. Vor diesem Hintergrund ist es von großer Relevanz, seine sozialen Beziehungen zu pflegen und respektvoll, gesichtswahrend miteinander umzugehen. Das offene Äußern von negativer Kritik gehört daher nicht zum Standard-Verhaltensrepertoire. Was nicht bedeutet, dass sich die Menschen nicht intensiv gegenseitig beobachten, um abzuschätzen, woran sie bei ihrem Gegenüber sind. Positive Rückmeldung in Form von Komplimenten wird gern geäußert, für deutsche Ohren oft ungewohnt gefühlsstark.

Die deutsche Trennung von Person- und Sachebene in der Kommunikation ist für viele Tunesier und Tunesierinnen unverständlich. So berichtete mir eine tunesische Fachkraft für Gastronomie, die in Deutschland in einem Hotel arbeitet, dass sie völlig überrascht gewesen sei, wie sich ihre deutschen Kolleginnen zunächst intensiv über ein Problem in der gemeinsamen Zusammenarbeit unterhalten haben (Sachebene), nur um danach einträchtig gemeinsam in die Mittagspause zu gehen (Beziehungsebene). Nach so einem „Streit“ wäre sie der Person mehrere Tage aus dem Weg gegangen.

Kontext erklären: warum ist Feedback wichtig?

Um die Bedeutung des Feedbacks zu verdeutlichen und die Erwartungen an den Prozess zu klären, war es mir zu Beginn der Moderation wichtig, einen kurzen Input zum Thema Feedback zu geben. Insbesondere vor dem Hintergrund, da die tunesischen Mitarbeitenden aus ihrer Kultur heraus über ein anderes Verständnis von Feedback  als das westliche, deutsch-amerikanisch geprägte verfügen.

Warum investiert eine deutsche Organisation Zeit und Mühe in diesen Prozess? Dies geschieht vor dem Hintergrund einer konstruktiven Fehlerkultur, die direkte Kommunikation schätzt und Feedback als Möglichkeit zur Entwicklung betrachtet. Im interkulturellen Kontext ist dieses Verständnis nicht selbstverständlich.

Das Feedback der Teammitglieder an die FK ist ein Geschenk, das angenommen oder abgelehnt werden kann. Es bietet die Chance, blinde Flecken aufzudecken und ermöglicht Entwicklung und Verbesserung. Einigen Teilnehmenden fiel es schwer, sich auf diesen ungewohnten Prozess einzulassen. Sie hatten die Erwartung, dass ihre Kritik sofort umgesetzt werden müsse. Es war wichtig, von Anfang an auf die Freiheit der feedbackerhaltenden Person hinzuweisen, dieses Geschenk in ihrem Sinne umzusetzen oder auch nicht.

Einflussfaktoren auf den Feedbackprozess

people sitting around a table and talking

Mitglieder in Teams, in denen psychologische Sicherheit vorhanden ist, können Meinungsverschiedenheiten offen aussprechen, ohne dass daraus ein Konflikt entstehen muss. 

Länge der Zusammenarbeit, Erfahrung mit dem Prozess

Die Teams bestanden hauptsächlich aus tunesischen Mitarbeitenden, wobei deutsche Mitarbeitende in der Minderheit waren. Viele dieser Teams arbeiteten bereits seit 2-3 Jahren zusammen und hatten Erfahrung mit dem Feedbackprozess gesammelt. Eine gute, vertrauensvolle Zusammenarbeit innerhalb des Teams sowie vorhandene psychologische Sicherheit (im Sinne von: alle Teammitglieder fühlen sich in der Gruppe so sicher und gehört, dass sie sich auch trauen, ein Risiko wie kritisches Feedback einzugehen) erleichterten die Vorbereitung des Feedbacks.

Ein neuer Mitarbeiter, der zuvor in der öffentlichen Verwaltung tätig war, hatte anfangs Bedenken, offen zu sprechen. An seinem vorherigen Arbeitsplatz hätte ihn offen geäußerte Kritik an seiner FK schnell den Job kosten können, und nun wurde er explizit aufgefordert, offen zu sprechen! Die Zusicherungen anderer Teammitglieder, dass die FK in der Vergangenheit offen für Feedback war und ehrliches Interesse gezeigt habe, halfen ihm, seine Skepsis zu überwinden.

Womit wir auch schon zu einem weiteren Einflussfaktor kommen:

Reaktion der Führungskraft

Die Reaktionen der Führungskräfte variierten unabhängig von ihrer Nationalität. Einige waren weniger interessiert an den positiven Aspekten und konzentrierten sich stattdessen ausschließlich auf Verbesserungsmöglichkeiten. Diese einseitige Betrachtungsweise verpasst die Chance auf gemeinsame Entwicklung und stärkt nicht die psychologische Sicherheit im Team, die durch offenen Austausch und konstruktive Verbesserungsvorschläge gefördert wird. Einige Führungskräfte zeigten auch eine Neigung zur Rechtfertigung anstatt gemeinsam mit den Mitarbeitenden nach Lösungen zu suchen oder Feedback zu reflektieren. Es gab keine deutlichen Unterschiede zwischen tunesischen und deutschen Führungskräften in diesem Verhalten. Einige waren kritikfähig und offen für Feedback und behandelten die Rückmeldungen ruhig und gelassen, während andere durch ihre Reaktionen während des Feedbacks Spannungen im Team verursachten.

Kulturelle Besonderheiten

Man and woman shaking hands

Tunesische Mitarbeitende wünschen sich oft mehr Worte und Gesten der Wertschätzung von ihren Führungskräften.

Häufiger Inhalt der Feedbacks: fehlende Wertschätzung

Ein Punkt, der in fast jedem Feedback von den Mitarbeitenden an ihre FK angesprochen wurde, war „Wertschätzung“. Dahinter stand meist das Bedürfnis, von der FK gesehen zu werden hinsichtlich beruflicher Bemühungen, aber auch als Mensch, im Sinne von sich grüßen, einen Small Talk halten, kleine Gesten der Aufmerksamkeit.

Dieser Mangel an Anerkennung wurde besonders stark bei deutschen FK (unabhängig vom Geschlecht) empfunden, was erneut darauf hinweist, wie wichtig die zwischenmenschliche Ebene in der tunesischen Kultur ist. Die FK sollten den Aufbau und die Pflege dieser Vertrauensbasis nicht unterschätzen, da sie die Grundlage für eine effektive Zusammenarbeit bildet. Im Gegensatz dazu entsteht im deutschen Kontext eine vertrauensvolle Beziehung oft aus der effektiven Zusammenarbeit heraus und kann sich dann möglicherweise auch auf persönlichere Ebenen ausweiten. Tunesische Mitarbeitende erwarten Anerkennung für ihre Bemühungen, unabhängig vom Ergebnis, was deutsche FK oft vor Herausforderungen stellt („Nicht geschimpft ist gelobt genug“ und „Mit dem Ergebnis dieser Arbeit kann ich überhaupt nichts anfangen! Jetzt soll ich die Person auch noch loben, weil sie sich so angestrengt hat??“) Die Kunst besteht darin, dem Bedürfnis des Mitarbeitenden entgegenzukommen, während man selbst authentisch bleibt. Ein geheucheltes, zähneknirschendes Lob könnte nämlich die entgegengesetzte Wirkung haben.

Häufiger Kritikpunkt der FK: fehlende Partizipation an Veränderung

Seitens der FKs wurde bereits im Vorgespräch die wahrgenommene mangelnde Beteiligung an Veränderungsprozessen seitens einiger Mitarbeitenden angesprochen. Die FKs bemängelten, dass einige Mitarbeitende das Feedback dazu nutzten, alle Kritikpunkte gegenüber ihrer FK anzusprechen und sich so der eigenen Verantwortung für Veränderungen zu entziehen. Dabei werde der eigene Beitrag zur Lösung von Problemen häufig übersehen. Mehrere FK äußerten den Wunsch an mich als Moderatorin, dass ich bereits beim Sammeln des Feedbacks auf die Umsetzbarkeit und die individuelle Verantwortlichkeit hinweisen solle.

In einer hierarchisch geprägten Kultur, in der die FK oft als Respektpersonen angesehen werden, die den Weg vorgeben und eigenständiges Denken in der Schule nicht gefördert wird, erwarten viele Mitarbeitende, dass die FK die Hauptverantwortung für Veränderungen trägt und ihnen sagt, was zu tun ist.

Fazit

Die deutschen und tunesischen Mitarbeitenden und die FK, die ich im Rahmen meiner Moderatorinnentätigkeit erlebt habe, waren in der Mehrzahl schon seit einigen Jahren für diese deutsche Organisation tätig und hatten sich offensichtlich eingespielt in Punkto  Arbeitstechniken und -Herangehensweisen. Nichtsdestotrotz blitzen punktuell die kulturellen Verschiedenheiten eben doch noch durch, insbesondere in Bezug auf direkte Kommunikation, Wege der Informationsgewinnung, Wertschätzung und Lob sowie Partizipation an Veränderung.

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Lena Dihstelhoff, Diplom-Psychologin, systemische Coach und interkulturelle Trainerin, ist spezialisiert auf mentale Gesundheit und interkulturelle Zusammenarbeit. Sie coacht Einzelpersonen und Teams und begleitet deutsche Arbeitgeber bei der Integration von ausländischen Fachkräften. Seit 2020 lebt und arbeitet sie sowohl in Deutschland, als auch in Tunesien. Für Unternehmen, die an einer Unterstützung bei der Integration ausländischer Fachkräfte in ihr bestehendes Team interessiert sind, ist sie gerne Ansprechpartnerin, am besten über ihre Webseite oder LinkedIn.


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